*La Bohème-Theater St.Gallen | Oper und Kultur

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*La Bohème-Theater St.Gallen | Oper und Kultur

Puccini "La Bohème" - Theater St.Gallen (18.10.25)

Aus der Kälte des Atems

In der gestrigen Premiere am Theater St.Gallen zeigt Guta Rau eine „Bohème“, die der Reinheit in der Poesie vertraut, basierend auf stimmungsvolle Effekte zwischen Zeit, Stille und Atem. Eine klassisch gestaltete Inszenierung, die den Raum gewährt, die Stimmen voll zu entfalten, und in deren Reinheit Puccinis Musik ihre ursprüngliche Schönheit zum Strahlen bringt. Unter der musikalischen Leitung von Modestas Pitrenas entsteht ein Abend, der dem Flüchtigen ein Aufglühen schenkt. Zum Schluss jubelt der voll besetzte Saal einer rundum gelungenen Aufführung zu.


Erster Atemzug
Es ist, als würde der Abend mit einem Einatmen beginnen. Feine Spannung liegt in der Luft, wie das Schimmern von Frost. Nichts das sich laut ankündigt, kein greller Gestus der die Erwartung stört. In Guta Raus Deutung von Puccinis La Bohème entsteht das Drama aus der Konzentration und dem Vertrauen, dass Musik und Körper genügen, um eine Welt zu erschaffen.
So öffnet sich der Vorhang öffnet sich auf eine Bühne, die eher Erinnerung als Ort ist. Ein Dachboden aus Licht und Holz, zeitlos und leer genug, um zum Spiegel innerer Zustände zu werden. Hier darf das Wort „klassisch“ wörtlich genommen werden. Rau verzichtet auf Modernismen, bleibt nahe an der Erzählung, aber sie inszeniert sie mit jener stillen Intelligenz, die Raum lässt. Raum für Klang, für Atem und für das, was zwischen zwei Blicken geschieht.

Dichter der kleinen Leben
Puccinis
La Bohème, 1896 in Turin uraufgeführt, ist eine Oper über das Flüchtige: Liebe, Armut, Freundschaft, Krankheit, Erinnerung. Der Komponist, ein feiner Chronist des Alltäglichen, hat in ihr eine Musik geschaffen, die von innen heraus glüht. Sie erzählt vom zarten Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verfall, vom Aufblitzen des Lebens inmitten der Kälte.
Giacomo Puccini selbst erinnerte sich an den Anfang dieser Geschichte: „Die Geburtsstunde war an einem Regentag, als ich nichts zu tun hatte und mich daran machte, ein Buch zu lesen, das ich nicht kannte. Der Titel lautete Scènes de la vie de Bohème.“ In Murgers Roman, mit seinen armen Künstlern, seiner jugendlichen Leidenschaft und den still vergossenen Tränen, fand der Komponist das, was er in der grossen Opernwelt oft vermisst hatte: das Menschliche.
Gemeinsam mit den Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa begann er kurz nach seinem Durchbruch mit
Manon Lescaut, aus den Episoden Murgers eine schlichte, aber vollkommene Geschichte zu formen. Keine Heldensage, sondern eine leise Studie über Nähe und Verlust. Wo Manon Lescaut noch brannte, atmet La Bohème. Mit dieser Wendung vom Äusseren zum Inneren, vom Glanz zur Stille, fand Puccini jene Sprache, die ihn unsterblich machte.

Szenisches Gleichgewicht

Guta Rau inszeniert weniger aus einer Idee heraus, als vielmehr aus der Bewegung des Gefühls. So lässt sie die Figuren aus der Musik entstehen, nicht umgekehrt. Da findet sich kein Overacting, keine forcierte Gestik, das die Fragilität der Geschichte stört. Die Sängerinnen und Sänger dürfen ganz bei sich bleiben, dürfen singen, ohne sich in übertriebener Art behaupten zu müssen. In dieser Zurückhaltung liegt eine verhaltene Schönheit, die vollkommen zu einem Haus wie dem Theater St. Gallen passt. Mit seinen fein gearbeiteten, werkverbundenen Produktionen wird es zu einem Vorbild für viele Bühnen, die in der Nähe zum Werk ihre eigene Handschrift finden und damit Menschen jeden Alters erreichen.
Für die Regisseurin steht die Zeitlosigkeit des Künstlerdaseins im Zentrum. „Die Probleme eines Künstlers lassen sich auf jedes Jahrhundert übertragen“, sagt sie. Ihre Bühne ist kein konkretes Paris, sondern ein wandelbarer, karger Raum, in dem sich die Fragen der Figuren spiegeln: Was ist Kunst, was Erfolg, was Selbstverwirklichung? Muss man sich opfern, um zu bestehen?
Mit solchen Gedanken liess Rau ihre Sängerinnen und Sänger arbeiten, ohne Antworten vorzugeben. So entsteht ein natürliches, organisches Spiel, das vom Inneren der Figuren getragen wird. Rodolfo und Mimì begegnen sich mit leiser Unmittelbarkeit, Marcello und Musetta im kontrastreichen Wechsel zwischen Nähe und Freiheit.
Dazu passend gleicht das Bühnenbild von Isabelle Kittnar einem Traum in Sepiatönen, mit einem Zimmer, das sich öffnet wie ein Herz. Hier fügt sich die Kostümierung von Melina Poppe kreativ ein, ohne das Gesamtbild zu stören. Andreas Enzlers Licht malt die passenden Emotionen dazu, verdichtet sich im Tod Mimìs zu einer bleichen, beinahe sakralen Ruhe. Eine szenisches Zusammenspiel, das der Harmonie vertraut und in der Kraft des Atems Ihre Wahrheit findet.

Verismo in der Moderne

Für Modestas Pitrenas ist La Bohème jene Oper, in der Puccini zu sich selbst findet. Hier wird er zu dem Komponisten, den man liebt, weil seine Musik nicht bloss erzählt, sondern fühlt. Vom ersten Takt an zieht sie uns in einen Strom aus Emotionen, so unmittelbar, dass selbst der grösste Skeptiker eine heimliche Träne spüren könnte.
Der Komponist greift in dieser Partitur auf frühe Skizzen und Motive zurück, die in
Tosca, Madama Butterfly oder Turandot wiederkehren werden. Doch erst hier, in La Bohème, entsteht sein unverwechselbarer Stil, eine Sprache der Empfindung, die zwischen Sehnsucht und Realität schwebt.
Pitrenas spricht von der Partitur als einer Herausforderung: da ist kein überflüssiger Takt, keine Note ohne Gewicht. Jede Stimmung verändert sich aus der inneren Bewegung der Figuren heraus. Liebe, Eifersucht, Strassenlärm, Krankheit, Tod. Alles fliesst ohne Grenzen ineinander. Das Orchester folgt dabei einem ständigen Atem, der sich dehnt, stockt und dann wieder weiterfliesst.
Diese Musik ist „ein schillerndes Meer der Gefühle, ein Gewebe aus Licht und Schatten", sagt der musikalische Direktor. Sie trägt den Verismo in die Moderne, öffnet sich zur Postromantik und manchmal, in ihrer Freiheit des Rhythmus, sogar zum Jazz. Vielleicht liegt gerade darin ihr Zauber: dass sie nie stillsteht, sondern immer wieder neu zu leben beginnt, mit jedem Atemzug und jedem Ton.

Stimmen des reinen Lichts
Sylvia D’Eramo als Mimì singt mit jener Reinheit, die Puccinis Musik verlangt. Ihr Sopran ist klar und durchscheinend, von einer Reinheit, die sich auch in der Sentimentalität verlieren darf. So trifft sie in "Sì, mi chiamo Mimì" mit jedem Ton ins Herz. Selbst wenn die Musik sie in leidenschaftlichere Höhen trägt, bleibt ihre Linie geschmeidig und leuchtend, getragen von makelloser Technik und einem dezenten Vibrato, das lebendig bleibt.
Brian Michael Moore gibt Rodolfo eine Stimme, die weniger in der Breite als in der Direktheit wirkt. Sein Timbre ist hell, spitz geführt, von klarer Projektion und ohne überflüssiges Pathos. In "Che gelida manina" gleicht sein Ton einer tastenden Bitte, kontrolliert und fein nuanciert. In den kraftvolleren Passagen jedoch verliert sich jede Spur von Zaghaftigkeit, die Stimme öffnet sich und entfaltet ihre ganze Energie, strahlend und frei. So entsteht ein Rodolfo, dessen Ausdruck aus Spannung lebt, zwischen Zurückhaltung und Aufbegehren, zwischen Sehnsucht und dem Mut, laut zu werden.
Die Timbres der beiden Hauptfiguren wirken perfekt aufeinander abgestimmt. Das unterstreicht ihr Gespräch aus Atem und Blicken und lässt jene Zärtlichkeit zu, die schon zu Anfang um ihre Endlichkeit weiss.

Ebenfalls stimmig wirkt das von seltener Geschlossenheit getragene Ensemble. Vincenzo Neri gestaltet den Marcello mit warmem, tragfähigem Bariton, der in den lyrischen Passagen weich schimmert und in der Reibung mit Musetta Glut entfaltet. Kali Hardwick verleiht Musetta Glanz und Linienkultur, mit sicherer Technik und feinem Sinn für Farbe, der zwischen Leichtigkeit und Gefühl schwingt.
Jonas Jud gibt Colline mit noblem Bass geerdete Autorität und formt seinen stillen Abschied von der alten Mantelgarderobe zu einem Moment schlichter Grösse. Felix Gygli bringt als Schaunard eine lebendige Präsenz ein, präzise im Spiel und warm im Ton. Riccardo Botta setzt als Benoît und Alcindor feine, natürlich komische Akzente. Sein Spiel lebt von Leichtigkeit und Timing. Eine menschliche Heiterkeit, die das Ensemble wie ein Atemzug durchzieht, als Erinnerung daran, dass Lachen und Trauer in Puccinis Welt ein und dasselbe Herz schlagen.

Das Verstummen
Ein Dachzimmer im Pariser Quartier Latin, vier junge Männer, wenig Geld und viele Träume. Aus dieser Enge entspringt der weite Raum einer Freundschaft, die vom Lachen ebenso lebt wie vom Mangel.
Der Dichter Rodolfo bleibt zurück, als seine Freunde hinausziehen. Er begegnet Mimì, der fragilen Blumenstickerin, die im Dunkel um Feuer bittet. Eine zufällige Berührung, ein verlorener Schlüssel und schon hebt das Schicksal an, leise und unwiderruflich. Ihre Liebe, die im Winter beginnt, trägt von Beginn an den Hauch eines Abschieds.
Zwischen den Freunden flackert das Leben in warmen, fast übermütigen Farben. In Musettas Auftrittsszene mischt sich Ironie und Überschwang: gemeinsam mit den Chordamen entfaltet sie eine charmant überzeichnete Bollywood-Episode, die Witz und Eleganz verbindet. Der Kinderchor bringt in den Strassenszenen eine lichte, unbeschwerte Energie ein, in der die Stimmen klar und präzise schillern. Ein Echo jener Unschuld, die das Erwachsensein längst verloren hat. Auch die Chorpartien des Ensembles klingen makellos, getragen von Balance und sauberer Disziplin.
Doch die Freude bleibt fragil. Armut, Krankheit und das schwindende Licht drängen sich zwischen die Figuren. Im letzten Bild liegt Stille über der Bühne. Nur das fahle Licht senkt sich über Mimìs Gesicht, währen die Musik den Moment hält. In dieser Ruhe, in der alles vergeht, schimmert das, was bleibt: ein leises, menschliches Glück, das gerade im Verlust seine Wahrheit findet.

Nachhall
Die Produktion des Theater St.Gallen ist eine Feier des Einfachen. Die Regie schenkt der Musik Raum und vertraut ihr die Führung an. Alles folgt dem natürlichen Fluss von Klang und Bewegung, getragen von Menschen, die Puccinis Welt mit stiller Hingabe erfüllen. Begleitet von einer Musik, die so unvergesslich nachhallt, dass sie niemanden so schnell loslässt.
Aufgrund technischer Pannen musste die Vorstellung ohne Übertitelungsanlage und Kamera für den Dirigenten auskommen, wofür Theaterdirektor Jan Hendrik Bogen das Premierenpublikum in einem kurzen Intermezzo um Nachsicht bat. Der Moment zeigte, wie selbstverständlich dieses Haus mit solchen Situationen umgeht und wie leicht sich aus einer Live-Performance selbst inmitten kleiner Zwischenfälle Nähe und Heiterkeit gewinnen lassen.

Dennoch feiert das Publikum im ausverkauften Saal mit tosendem Applaus und stehenden Ovationen eine Vorstellung, die berührt, überzeugt und für einen Augenblick das alles vergessen lässt.


Weitere Aufführungen bis zum 20. Januar 2026
Infos und Tickets

Carmela Maggi, 19. Oktober 2025

Bildrechte: Theater St.Gallen

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