*Tell - Schauspielhaus Zürich | Oper und Kultur

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*Tell - Schauspielhaus Zürich | Oper und Kultur

Wihelm Tell - Schauspielhaus Zürich

Dem Mythos auf der Spur

Müsste jemand für die Aufführung des "Wilhelm Tell" nach Friedrich Schillers Werk an der gestrigen Premiere im Schauspielhaus Zürich ein Wort finden, würde dieses wohl "Authentizität" lauten. Im ausverkauften Haus scheiden sich jedenfalls die Geister, zwischen Standing Ovations und Betroffenheit, zur fragmentierten und mehr als gewagten Inszenierung von Milo Rau. Obwohl diese ein Zeichen gegen die Diskriminierung in jeder Form setzt, ist sie für sensible Geister nicht geeignet.


Simpel kommt sie auf den ersten Blick daher, die Inszenierung. Erinnert gewissermassen an eine Selbsthilfegruppe, bei der jeder seine Lebensgeschichte erzählen darf und dafür von der Runde beklatscht wird. Doch ganz so simpel ist es dann noch nicht. Denn Regisseur Milo Rau setzt bei seinem Publikum sowohl Bildung, als auch eingehende Auseinandersetzung mit Schillers letztem Werk "Wilhelm Tell" und dessen geschichtliche Entwicklung während dem 2. Weltkrieg, voraus.
Ob die Aufführung sich überhaupt und gerade deswegen als Bildungsstück für eine Gymnasialklasse eignen würde ist, bei den teilweise scheusslich-blutigen Szenen mehr als fraglich. Trotz des Zeichens gegen Rassismus und Diskriminierung in jeglicher Form, auch gegen die deutschen Gastarbeiter, ist die Performance definitiv nichts für empfindsame Seelen.
An Humor lässt es das Stück bei aller Tragik dennoch nicht fehlen, indem es beispielsweise Tells Pfeilschuss in den Apfel als erotischen Akt Amors darstellt.
Die schmunzelnde Ablehnung des Zürchers gegen die katholischen St.Galler scheint jedenfalls aus Zwingli-Zeiten, wenn auch den meisten nicht bewusst, immer noch tief zu sitzen.

Dreifaltigkeit
Die Geschichte des Schweizer Helden und Mythos Wilhelm Tell ist eine Geschichte der Unterdrückung und Befreiung. Entstanden aus einer gleichsam heiligen Dreifaltigkeit, dem Schwur 1291 zwischen den Ländern Uri, Schwyz und Nidwalden, die durch ihren Bund die Schweiz in der heutigen Form gegründet haben.
Sehr leicht lassen sich Parallelen zu nachfolgenden Epochen bis hin zur Gegenwart erstellen. "Wofür haben die Schweizer eigentlich gekämpft!?"; scheint die Frage zu sein, die letztlich als Fazit im Raum steht. Wollte doch Schiller selbst am Ende seines Dramas keine Änderung der Verhältnisse.
Also gibt es trotz Hochzeit kein Happy End. Nein, es gibt noch viel zu tun, viel zu erkämpfen, bis eine vollständige Integration und Gleichberechtigung von politisch verfolgten Sans-Papiers, Menschen mit Einschränkungen, diverser Herkunft oder Geschlechtsidentität, ins Altersheim Abgeschobene und eine unendliche Liste weiterer Individuen, stattfinden kann.

Fragmente der Dramen
"Nach Friedrich Schiller" steht im Programm. Und genau das trifft es. Denn das ursprüngliche Drama wird nur spärlich und in zerrissenen Fragmenten erzählt. Eingebettet zwischen den Lebensgeschichten aller Schauspieler*innen und Akteur*innen des Ensembles finden sich Menschen, die in verschiedenen Kantonen bei ausgeschriebenen Castings gefunden wurden.
Als Hauptthema gelten deshalb die persönlichen Geschichten aller Beteiligten, die als sich selbst auf der Bühne stehen und ihre Erlebnisse bewegend, absolut perfekt und mit einer ungespielt wirkenden Authentizität vortragen.
Hut ab, für den Mut, eigene Schattenlinien zu zeichnen und sich ohne den Schutz einer Rolle für das Publikum zu öffnen. Allem voran steht die bewegende Erzählung von Irma Frei, die vom Staat der Obhut ihrer Mutter gewaltsam entrissen und gezwungen wurde, ihre Kindheit unter der Fuchtel von
Emil Bührle als Zwangsarbeiterin zu verbringen. Wofür sie bis heute weder um Entschuldigung gebeten, noch entschädigt wurde.

Der grosse Kanton
Schillers Drama, 1804 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt, wurde 1941 von Hitler unter Verbot gestellt. Waren die Parallelen doch zu offensichtlich, die Handlung zu aufrührerisch, die ihn als Faschist zu entblössen drohte.
In Milo Raus Version stellt sich aus diesem Grund ein weiteres Hauptthema: Der faschistische Nachbar Deutschland, als Symbolträger des Habsburger Unterdrückers, bei den Schweizern in seiner lauten und bunten Art bis heute abgelehnt, wenn gar verhasst. Gleichzeitig als billige und hochqualifizierte Arbeitskräfte in allen Wirtschaftszweigen geschätzt, nehmen immer mehr Schweizer die Mühe auf sich, Hochdeutsch zu sprechen und integrieren sich damit gewissermassen selbst. Daher nennen sie vermutlich das Nachbarland insgeheim mit einem Augenzwinkern "den grossen Kanton".

Gewagte Fragen
Zusätzlich stellt die Inszenierung eine brisante und gewagte Frage: Ob die Schweizer den Nationalsozialismus wohl mitgemacht hätten, würden Sie die Deutschen nicht aus tiefster Seele gehasst haben. Dieser Hass gründet aus Zeiten des Kaisers unter dem Wappen des Doppeladlers, der aus dem Aargau die umliegenden Regionen mit unbarmherziger Herrschaft regiert hat und von mutigen Männern, wie der erfundene Held mit dem berühmten Apfelschuss, verjagt wurde. Ob die bejubelte Ermordung des habsburgischen Landvogts Gessler durch Wilhelm Tell wohl als Lynchjustiz angesehen werden kann, und dies generell zur Ideologie des Schweizers gehört, wurde ebenfalls als Thema, das zu überdenken sich lohnt, angedeutet.

Geniale Umsetzung
So gewagt und polarisierend die Inszenierung auch sein mag, die Umsetzung der Bühne, mit Live-Videos ist auf der Inhaltsebene eine geniale, zweckmässige und ebenso ästhetische Idee, die das Publikum in den hinteren Plätzen mehr genossen haben dürfte. Die Live-Projektion schob sich auf dem transparenten Tüll, aufgespannt zwischen Gegenwart und Schillers Drama, wie zwischen Traum und Realität. Darin wechseln die Pro- und Antagonist*innen in mehreren Rollen teilweise unmerklich, teilweise absichtlich inszeniert, hin und her. Eine Herausforderung, die sowohl vom Ensemble wie auch von den semiprofessionellen Protagonist*innen aus mehreren Kulturkreisen hervorragend gemeistert wurde.

Aufführungen noch bis zum 28. Mai 2022
Infos und Tickets

Carmela Maggi und Marvin Joel Maggi 24. April 2022
21-22 Wilhelm Tell SHZ Foto∏Philip Frowein (1) (Bildrechte: Schauspielhaus Zürich)