Lucia di Lammermoor - Opernhaus Zürich
Befreiung durch Wahnsinn
Nach dem zweiten Lockdown darf das Opernhaus Zürich seine Tore wieder öffnen, wenn auch nur mit maximal hundert verkauften Plätzen. Und nach der Premiere von Donizettis "Lucia di Lammermoor" kommt schon die nächste gute Nachricht vom BAG. Mit Schutzkonzept "Schachbrettmuster und Maske" darf der Saal etwa zur Hälfte gefüllt werden. Das macht Hoffnung, obwohl Chor und Orchester immer noch aus dem Kreuzplatz übertragen werden müssen.
Klein anfangen
Die Opernpremiere reiht sich in eine Gruppe von kleinen Produktionen, die das Opernhaus zur Überbrückung der Corona-Krise konzipiert hat. Doch immer noch muss aus Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr improvisiert werden.
Auf der Bühne steht anstelle des Chors eine Statistengruppe im Sicherheitsabstand. Der Gesang erklingt, wie auch die live gespielte Musik, mit Lichtgeschwindigkeit übertragen, aus dem Proberaum am Kreuzplatz. Der Abstand könne im Orchestergraben nicht gewährleistet werden, tönt es aus den Lautsprechern. Deswegen habe sich das Opernhaus entschieden ihr Übertragungskonzept vorerst beizubehalten. Eine Herausforderung an alle Mitwirkenden, die auf eine funktionierende Symbiose angewiesen sind.
Frauen-Leitungsteam
Für die Produktion wurde ein Frauenteam in die Leitung gewählt. Lobenswert und selten genug eine begabte Dirigentin wie die Speranza Scappucci am Pult zu erleben, die mit Donizettis wundervoller Komposition selbst die scheusslichste Geschichte in Watte zu packen vermag. Schade, dass die Technik nicht ganz mitmacht. Unglücklich gemischt scheppern die Höhen und Forti. So stossen auch die Solistinnen und Solisten, die das Orchester ohne technische Hilfsmittel übertönen müssen, mehrmals an ihre Grenzen. Einziger Lichtblick ist die Glasharfe. Sphärisch erklingt sie direkt aus dem Saal und hebt die Schlussszenen auf eine mystische Ebene.
"Lucia di Lammermoor," 1835 in Neapel uraufgeführt, spielt im unterkühlten Schottland, das durch Glaubenskriege mit Irland und England gebeutelt wird. Salvatore Cammarano zeichnet in seinem Libretto eine Frauenfigur, die am Versuch, sich den männlichen Strukturen zu widersetzen, scheitert.
Regisseurin Tatjana Gürbaca interpretiert die Geschichte, deren Themen sich leicht in die heutige Zeit übertragen lassen, eigenwillig mit Kilts und Fussballtrikots. Auch die Inszenierung mit einigen Frivolitäten in der Hochzeitsnacht wurden wohl vom Publikum an der Premiere mit Buhrufen gestraft. Mein Besuch, aus Platzmangel auf die zweite Aufführung verschoben, verlief etwas ruhiger und mit ermunterndem Beifall für die enorme Leistung, die jede Opernaufführung generell erfordert.
Das Bett als Zentrum des Lebens
Die Inszenierung stellt das Bett ins Zentrum des Geschehens. Hier nämlich finden die Meilensteine des Lebens statt. Im Bett beginnt und endet das Leben, dazwischen wird von der Zukunft und Vergangenheit geträumt, geliebt oder eben geschändet, so wie in dieser Erzählung.
Der wütenden Stier des Librettos wurde von der Regie in eine Männergestalt adaptiert, die Lucia in ihrer Kindheit missbraucht und von ihrem Retter Eduardo zur Strecke gebracht wird. Überhaupt fliesst viel Blut an diesem Abend, resultierend aus Lucias Weigerung, sich den Machenschaften zu fügen. Sie will weder ihr Leben, noch ihren Körper für familiäre Interessen hergeben und verfällt als letzen Ausweg einen alles zerstörenden Wahnsinn.
Hohe Anforderungen
Iina Lungu konnte in der Titelrolle den Anforderungen, mit Ausnahme der letzen Szenen, gerecht werden. Sie interpretiert die schwierigen Koloraturen gekonnt vom träumerischen Mädchen bis hin in den Exzess des Irrsinns, an dem ihre Stimme, inszeniert oder nicht, versiegen muss. Ja, die Titelrolle verlangt Kraft und Ausdauer. Deshalb weist das Programmheft auf das, ach so wichtige, körperliche Training der drahtigen Protagonistin hin, wie es der Mainstream in den letzten Jahre auch im klassischen Gesangfach explizit von den Frauen verlangt. Dabei würden fünf Kilo mehr auf den Rippen etwas mehr Reserve in die Stimme packen und eine natürliche Stütze aufbauen, so dass sich die Anstrengung nicht so offensichtlich zeigt.
Auch Massimo Cavalletti als Lord Enrico Ashton, dem Bruder Lucias, wollen die Arien nicht zur Gänze gelingen. Der sicher aufgestellte Bariton erfährt in der Kopfstimme wenig Unterstützung und schert in den Höhen mehrmals zusammen mit den scheppernden Orchesterpassagen aus. Zudem zeigt sich die Dissonanz der beiden Geschwister auch in den Duetten, weil deren Klangfarben schlecht aufeinander abgestimmt sind.
Brillant hingegen Piotr Beczała, der als heimlicher Verlobter Edgardo di Ravenswood mit klarem und sicherem Tenor die Liebe seiner Angebeteten beteuert. Hier klappt es dann auch mit der Harmonie.
Emotional mitzureissen vermag an diesem Abend, möglicherweise wegen der allzu harten Inszenierung, keiner der Protagonisten. Angenehm auffallend ist jedoch die durchwegs perfekte und, für jene die der Italienischen Sprache mächtig sind, verständlich übertragene Phrasierung. Das Publikum jedenfalls ist glücklich und dankt.
Weitere Aufführungen bis zum 12. Juni 2022
Infos und Tickets
Carmela Maggi
24. Juni 2021