*Fliehende Wasser - Roman | Oper und Kultur

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*Fliehende Wasser - Roman | Oper und Kultur

Fliehende Wasser - Roman, Ursula Fricker

Fliehende Wasser

Um der Verbitterung seines Alltags zu entfliehen, zwingt Simon Brock sich und seine Familie in die Askese. Tochter Ida, zwischen Treue und Verrat hin- und hergerissen, wünscht sich nur noch eins, Vaters Tod. Mit „Fliehende Wasser“ ist Ursula Fricker ein Debütroman gelungen, der es in sich hat.

Wer den Erstlingsroman von Ursula Fricker „Fliehende Wasser" lesen möchte, sollte sich etwas Zeit nehmen, um nachzudenken und um tiefer zu gehen. Denn die Sprache der Autorin ist aus kargen Ausdrücken eines Landlebens in der Schweiz geformt und birgt Untergründe. Etwas, was nur einer guten Schreiberin gelingt. Sie erzählt in kurzen Geschichten und pendelt dafür zwischen der Vergangenheit des Vaters Simon Brock, der Mutter Elisabeth und der Wirklichkeit der Tochter Ida.

Simon Brock ist achtzehn Jahre alt, als er sich in den Verlobten einer Bekannten verliebt. In den 50er Jahren war es aber undenkbar, einer solchen Neigung nachzugeben. So fährt er mit seinem Motorrad in ganz Europa herum, um das Meer zu sehen. Doch dieses scheint, ewig in Ebbe, vor ihm zu fliehen.
Statt auf die Flut zu warten, tut der Silberschmied, was von ihm erwartet wird und gründet eine Familie. Er bekommt mit seiner Frau zwei Kinder und krönt seinen Verzicht, in dem er dafür die Brötchen als Fabrikarbeiter verdient. Der Frust ist perfekt.

Als ihm die Schriften einer Lebensreformbewegung in die Hände fallen, verspricht sich Simon Brock von deren Askesepredigt Heilung und Befreiung aus seinem Alltag. Er isst fortan vegetarisch und wittert überall Schädliches und Schmutziges:
„Vater riecht Dinge, die sonst nur Hunde riechen. Er riecht, wenn Mutter mit fremden Menschen geredet hat. Er riecht, wenn unsere Nachbarin in der Wohnung gewesen ist.“

In der Familie gefangen, baut der Vater eine Mauer des Verzichts, in der er auch Frau und Kinder abschottet. Die Tochter Ida, die so zur Aussenseiterin gemacht wird, hat niemanden mehr zum Spielen. Weder den grossen Bruder Paul, der an Mädchenkram nicht interessiert ist, noch die Freundin Astrid, von deren Eltern Ida verscheucht wird.

In ihrer Verzweiflung möchte sie der Welt beweisen dass auch sie normal ist und - wie der Vater immer sagt - Dreck frisst: „Ich drücke meine Fingernägel in einen Kaugummi über den weisse und blaue Autos gefahren sind und kratze und steck ihn dann in den Mund. Zwischen meinen Zähnen knirscht Sand, und der Kaugummi schmeckt nach Pfefferminze.“

Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass, weiss das Mädchen keinen anderen Ausweg, als Gott anzuflehen, ihr den Vater doch endlich wegzunehmen.

Ursula Fricker
wurde 1965 in Schaffhausen geboren. Sie absolvierte in Bern die Ausbildung für Sozialarbeit, erwarb Schauspiel-Kenntnisse und gründete die Theatergruppe „Rotkäppchen darf nicht sterben“. 1992 zog sie nach Berlin. Dort verdiente sie sich den Lebensunterhalt mit Nachtwachen und baute eine Jugend-Theatergruppe auf. Nach acht Jahren hatte sie vom Moloch genug und zog aufs Land in die nördliche Uckermark. Dort lebt sie auf einem Hof mit Pferd und Schaf, und arbeitet als freie Autorin. Sie publiziert ausserdem Anthologie-Beiträge und Reportagen in diversen Zeitungen. 1997 erhielt Ursula Fricker das Alfred Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin. Für "Fliehende Wasser" wurde sie mit dem Förderbeitrag KulturRaum von Stadt und Kanton Schaffhausen ausgezeichnet.

Ursula Fricker, „Fliehende Wasser“ ISBN 3-85842-575-3, Verlag Pendo 2004, CHF 32.-


Carmela Maggi, 12. Juni 2006