Der Bonbonpalast - Roman, Elif Shafak
Ganz Istanbul in nur einem Haus
Romanautorin Elif Shafak wurde vor 2 Jahren wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ von ihrem Heimatstaat angeklagt weil sie den Genozid an den Armeniern in einem ihrer Romane erwähnt hat. Allen Anschuldigungen zum Trotz erschien diesen Monat ihr neuester Roman "Der Bonbonpalast" – als eine Liebeserklärung an die Stadt Istanbul.
Die zehn Wohnungen des Bonbonpalasts werden bewohnt durch die unterschiedlichsten Charaktere von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Eremiten, die ihren Alltag in der Moderne, samt ihren Tragödien und Komödien durchleben. Auf diese Weise bildet der Palast, der mit seinem bunten Stilmix sämtliche Epochen in sich vereint, eine Vollkommenheit in sich selbst. Unter dem Fundament zwei alte Friedhöfe, die mangels Bauland weichen mussten.
Davor und Noch davor
Die Entstehung des Bonbonpalasts erklärt sich in den einleitenden Kapiteln "Davor" und "Noch davor." Darin nimmt Geschichte des Hauses mit der russischen Emigrantin Agrippina Fjodorowna Antopowa, die ihre Umgebung und ihr Leben durch ihre Farben erfasst, ihren Anfang. Agrippina zerbricht an ihrer Ehe mit General Pawel Pawlowitsch Antipow und dem frühen Tod ihres Kindes. Nach vielen Jahren in der Nervenheilanstalt ist es jedoch gerade ihr Mann, der sie mit einer Geste des Mitgefühls und einer Hand voll Bonbons wieder ins Leben zurückholt. Er kehrt mit ihr nach Istanbul zurück und kauft ihr den Palast, dem Agrippina unter den zwecklosen Widerständen ihres Mannes den Namen "Bonbonpalast" verleiht.
Umwerfende Poesie
Aus dem türkischen übersetzt verliert der Roman nichts von seiner einzigartigen, orientalisch anmutenden Poesie – die Zeilenweise schlichtweg umwerfend ist. So zumindest lässt es sich als Deutschsprachiger erahnen. Die Autorin hat sich gerade mit dieser besonderen Form der Literatur, in der deutschen Sprache nirgends zu finden, mit dem neuen Roman selbst übertroffen. Sie zeichnet ihre Stadt so, wie sie nur jemand zeichnen kann, der von ausserhalb einen Blick hineinwirft und doch darin zuhause ist. Jene, die die Stadt kennen, werden vielerorts schmunzeln. Für jene die sie nicht kennen, ist der Roman ein Reiseführer in eine faszinierende Welt voll von menschlichen Schwächen und Wirrnissen, die in den verschiedenen Religionen und Weltansichten ihre Wurzeln tragen.
Elif Shafak
wurde 1971 in Strassburg geboren. Sie verbrachte ihre Jugend in Spanien und reiste erst später zum Studium in ihr Heimatland, die Türkei. Nach langjähriger Lehrtätigkeit in den USA lebt sie heute in Istanbul und veröffentlichte bereits zahlreiche Romane.
Angeklagt wurde die Autorin für ihren 2006 erschienen Roman Der Bastard von Istanbul. Darin äussert sie sich über den Völkermord an Armeniern während des ersten Weltkriegs. Davon will die offizielle türkische Geschichtsschreibung bis heute nichts wissen. Die Anklage wegen „öffentlicher Verunglimpfung des Türkentums“ ,in der Türkei keine Seltenheit, wurde jedoch inzwischen fallen gelassen.
Leseprobe:
Sie wickelte das Bonbon aus dem Zellophan und steckte es sich in den Mund. Die Farbe Rosa roch appetitlich und schmeckte Zuckersüss.
Während sich das Bonbon langsam in ihrem Mund auflöste, passierte etwas Überraschendes: Zuerst erwachten die ängstlich zusammengepressten Lippen der schönen Geliebten an der Seite des Bojars zum Leben und dann alles Rosafarbene um sie herum. Agrippina griff schnell nach den übrigen Bonbons und fragte ihren Mann bei jedem nach seinem Geschmack. Die gelben waren Zitrone, die roten Zimt, die grünen Pfefferminz, die orangefarbenen Mandarine, die braunen Karamell und die beigefarbenen Vanille.
Dann probierte sie alle aus (.....) sammelte alle Bonbonpapierchen ein und schaute durch sie hindurch wie durch eine Brille auf die Klinik, in der sie die vergangenen Jahre verbracht hatte. Sie hielt sich eines nach dem anderen vor die Augen und löschte damit das bedrückende Weiss, in das bis dahin alles getaucht war (....) Als sie Rot und Blau kombinierte und die ganze Welt in Lila sah, keuchte sie laut: "Is-tan-bul!"
Elif Shafak, Der Bonbonpalast
Verlag Eichborn Berlin, IBSN 978-3-8218-5806-0
Carmela Maggi, 17. September 2008