*Vaterländer- Roman | Oper und Kultur

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*Vaterländer- Roman | Oper und Kultur

Vaterländer- Roman, Sabin Tambrea

Sonnenechobilder
«Vaterländer» heisst er, Sabin Tambreas zweiter Roman. Einer der entdeckenswertesten und facettenreichsten Künstler dieser Zeit führt in seiner auf drei Biografien wurzelnden Reise durch die Fluchtgeschichte seiner Familie aus dem repressiven rumänischen Regime. Herzstück bilden dabei die geerbten Memoiren seines Grossvaters. Feinfühlig und bewegend zeichnet der Autor die Schicksale seiner Familie. Durch traumatische Erlebnisse, eines mit dem anderen verkettet, führen sie letztlich in ein neues, lichtvolles Leben. Die unnachahmliche, von grosser Virtuosität getragene Sprache liest sich trotz Komplexität leicht und flüssig, und lässt es bei all der Tragik und Spannung auch an hintergründigem Humor nicht mangeln. Wer den ersten Roman «Nachtleben» bereits kennt, entdeckt in den Erzählungen vielleicht mancherlei Bruchstücke, die dort kaleidoskopartig eingeflochten sind - und hält auch hier wieder die Taschentücher bereit.


«Die folgende Zeit zog wie ein Fiebertraum an uns vorbei. Aus dem Erinnerungskokon erlebten wir ein zersprungenes Kaleidoskop zeitgelöster Augenblicke, getragen von der Hoffnung, bald Frieden mit unserer Entwurzelung zu schließen.»
Er ist eine echte Künstlerseele; Sabin Tambrea, der sich hauptsächlich als Schauspieler einen Namen gemacht hat, zuletzt in der Hauptrolle als Franz Kafka in «Herrlichkeit des Lebens», beklagt in seinen Interviews wiederholt die fehlende Empathie, die sich gemeinsam mit Begriffen wie «Wirtschaftsflüchtlinge» in der Masse breitgemacht haben.

Der zweite Roman ist deshalb ein biografischer, der hautnah aufzeigen soll, was in Menschen vorgeht, die sich entschliessen, ihre Heimat zu verlassen. Welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind, um in erster Linie ihren Kindern ein neues Leben in einem demokratischen Umfeld mit freier Meinungsäusserung, künstlerischen und persönlichen Freiheiten und Entwicklungs-Chancen zu ermöglichen.
 «Vaterländer» zeichnet das Leben dreier Generationen. Das eigene, frühe Leben des Autors, das seines Grossvaters Horea und das seines Vaters Béla. Es sind Lebensgeschichten und Geschichten inniger Verbundenheit, die die Familienmitglieder fest zusammenschweissen.

«Sie versuchte angestrengt, ihr Bild aus der Erinnerung in diesem Mann wiederzuerkennen, und fast gelang es ihr, wie wenn man in die Sonne schaut und dann woanders hin, als sähe man das eingebrannte Echobild im neuen Blick, so auch auf dem Gesicht des Fremden.»
Als Hauptfigur in seinem autobiografischen Roman lässt sich Sabin Tambrea auf seiner Suche nach Berufung und Liebe auf sinnliche Weise leiten. Zuvor beginnt die Erzählung jedoch mit dem dramatischen Moment 1987, als er als Kleinkind dank des Familienzusammenführungs-Programms zusammen mit Mutter Rodica und Schwester Alina nach Deutschland nachreisen darf. Das Land, in das sein Vater zwei Jahre zuvor geflüchtet ist. Obwohl mit Verständnis und zärtlicher Fürsorge in einem freien Land aufgezogen, schwebt eine dunkle Wolke über dem sensiblen Kind. Viele Erlebnisse, die sein Grossvater in jungen Jahren erleiden musste, erscheinen im Roman deshalb als Déjà-vu.

«Ich sah kein Ich in einem Gegensatz zu ihm, ich fühlte mich ganz er, der mir in der vaterlosen Zeit weit mehr als ein Ersatz geworden war; ich sah ihn selbst in mir, so sehr ich auch versuchte, uns unabhängig zu betrachten.»
Ansonsten bewegt sich das Wunderkind zwischen den ehrgeizigen Musiker-Eltern durch eine grösstenteils unbeschwerte Kindheit, auch wenn es viele Stunden unfreiwillig an der Geige üben muss. Mit zum Teil schreiend komischen Anekdoten aus der klassischen Musikwelt, dem Theater, der Schule und engen Freundschaften, stolpert «Nuku» in seine Pubertät hinein. Da hebeln sich schon mal die Gesetze der Schwerkraft aus, was nicht selten zu schmerzhaften Zusammenstössen führt.

«Wenn es Engel gäbe, dann sähen sie genauso aus.»
Und ihre Namen würden genau so klingen; Horea Sava und Bumami sind die Grosseltern aus dem mütterlichen Zweig. Sie stehen im Zentrum der Zeichnung dreier Generationen in der rumänisch-ungarischen Familie. Es sind ungeahnte Traumata, die noch hinter der schützenden Fürsorge verborgen bleiben müssen. Zu unvorstellbar die Perversität menschlicher Grausamkeiten, an denen die zarte Seele zerbrechen würde. Doch die Epigenetik schleppt erlebte Traumata mit der fiesen Kralle hoffnungslos unkontrollierbarer Verlustangst weiter, die das Kind Nacht für Nacht umschlungen hält.

«In dieser Nacht krallte mich die Panik fester als die Jahre zuvor, als die dunkle Gestalt in mir noch keinen Namen und die tiefe Angst noch kein Gesicht trug.»
Es ist das verborgene Tagebuch des Grossvaters, auf das dieser seine Nachkommen am Sterbebett hinweist. Ein gewaltiges Mahnmal als Erbe an seine Enkel, wenn sie einmal alt und stark genug sein werden, den Inhalt zu verkraften. In minutiösen Berichten umschreibt Horea Sava die Zeit, in der er als junger Mann vier Jahre im Straflager verbringen muss, nachdem er aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert wurde.

«Wenn ich nur geahnt hätte, dass mir diese Kleidung von diesem Tag an sowohl als Decke als auch als Kissen dienen würde - ich wäre nach Hause gerannt, um mir wieder meine Winterkleidung anzuziehen.»
«Wer nicht für uns ist, ist gegen uns» hiess damals auch im vergifteten Rumänien die Parole nach dem Aufstieg der Kommunisten. Geprägt von feigem Denunziantentum breitet sich die ganze Abartigkeit psychischer und körperlicher Grausamkeiten im Land aus. Unter dem Vorwand, Regimegegner stoppen zu wollen, werden Landgüter enteignet, unschuldige Menschen inhaftiert, verhört, gefoltert, unter miserablen hygienischen Verhältnissen menschlich entwürdigt und zu Zwangsarbeit verurteilt.
Bumami, die bodenständige Frau an Horeas Seite, holt den zutiefst traumatisierten und stigmatisierten Mann am Ende eines langen Leidenswegs ins Leben zurück und steht ihm fortan als liebevolle und verlässliche Stütze zur Seite.

«Am 21. August 1968 war es Ceaușescu gelungen, den ersten Grundstein für seinen Personenkult zu setzen, der sich über die nächsten zwei Jahrzehnte ins Unermessliche steigern und jede Vorstellungskraft sprengen sollte.»
Das dritte Kapitel umfasst die Zeit, in der Nicolae Ceaușescu die Macht des Landes an sich reisst. Anfangs erschleicht er sich die Zustimmung des Volkes als weltoffener und grosszügiger Parteichef, plädiert für die Unabhängigkeit Rumäniens von den damaligen Sowjetrepubliken UdSSR. Weil sich aber die anfänglichen Hoffnungen nicht erfüllen, wachsen auch die Eltern Tambreas weiter unter Hunger und Entbehrungen auf. Auf der Musikschule erblüht ihre zauberhafte Liebesgeschichte, ein unzerstörbares Band, welches die lange Trennung nach der Flucht des Vaters bis zur Familienzusammenführung mit den noch kleinen Kindern aushalten muss.

«Béla, meine Liebe, was soll ich über mich schreiben? Ich liebe dich so sehr, und es fällt mir momentan sehr schwer, mich an die Realität zu gewöhnen, ohne dich. Doch wenn du durchhältst, so werde auch ich durchhalten, für dich, für unsere Kükchen, die wir beide so sehr lieben.»
Der Roman «Vaterländer» unterteilt sich in drei Kapiteln, deren Tempi unterschiedlicher nicht sein könnten. Dennoch versteht es der Autor, die Übergänge homogen zu gestalten und eine Einheit entstehen zu lassen. Die Sprache in beiden Romanen Tambreas ist die eines Schauspielers. Sie erfüllt den hohen Anspruch, starke Bilder zu erzeugen und ist trotz denkerischer Virtuosität flüssig zu lesen und auszusprechen.

 
Es ist ein individueller, eigenwilliger Schreibstil dessen Geschichten überall kleine Geheimnisse verpacken, jedoch vor allem das reiche Innenleben des entdeckenswerten Künstlers enthüllen. Damit schafft er es gleichsam auf intellektueller, als auch auf sinnlich-emotionaler Ebene zu verzaubern. Eine Ausdrucksweise, die Sichtweisen auf alltägliche Selbstverständlichkeiten zulässt und durch deren entwaffnende Logik aus der geometrisch-kosmologischen Lehre immer wieder ein Aha-Erlebnis entsteht. Dabei wird auch klar, welch grandiose Beobachtungsfähigkeit beim Schreiben, aber auch beim Spielen und Fotografieren zutage kommt.
 
«Er öffnete den Geigenkasten, griff nach seinem Instrument, verbeugte sich, die Stille applaudierte ihm»
 Wer den ersten Roman «Nachtleben» gut kennt, entdeckt in «Vaterländer» vielleicht kleine Bruchstücke, die bereits dort in fiktiven Zusammenhängen kaleidoskopartig eingebaut sind. Und genau wie beim letzten Buch bilden Anfang und Ende einen unendlichen Kreis, der dazu anregt, gleich im Karussell sitzen bleiben zu wollen.
 

Sabin Tambrea «Vaterländer»
365 Seiten Verlag GUTKiND, ISBN 978-3-98941-000-8

Tickets zur Buchpremiere in Berlin
Link zur Lesereise, teilweise mit Konzertergänzung

Hier die Rezension des ersten Romans «Nachtleben» mit detaillierterem Künstlerportrait
 
Carmela Maggi, 29. August 2024

(Zitate und Bilder mit freundlicher Genehmigung des Verlags und des Autors)

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