*Nachtleben - Roman | Oper und Kultur

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*Nachtleben - Roman | Oper und Kultur

Nachtleben - Roman, Sabin Tambrea

Endlos-Schlaufe des Lebens
Schauspieler, Musiker, Fotograf; vielschichtiger Künstler und nun auch Autor. Sabin Tambrea lässt in seinem Schaffensdrang nichts aus, nutzt Sensibilität und präzise Wahrnehmung in allen Disziplinen meisterhaft. So führt er in seinem Debütroman "Nachtleben" die Lesenden, mit einer Post-Coming-of-Age-Geschichte in einer imaginären Metropole, durch die Jahreszeiten des Lebens, und darüber hinaus.

Geschichtenerzähler
Bekanntlich knüpft der Beruf der Schauspielerei eng an die klassische und moderne Literatur, ja verlangt in erster Linie eine gewisse Belesenheit. So ist es nicht verwunderlich, dass nicht wenige das Handwerk umdrehen und die zahlreichen, zurückgezogenen Stunden nutzen, um eigene Werke zu verfassen.

Als Geschichtenerzähler führt jetzt auch Sabin Tambrea in seinem Debütroman «Nachtleben», mit der ihm eigenen, sensitiven Wahrnehmung, die Hauptfiguren Anno und Anna durch die Jahreszeiten des Lebens. Und darüber hinaus in die Welt der Träume, bis an die Grenzen des Verstandes.
Mit besonderer Fähigkeit zur Empathie ermöglicht der Autor den Lesenden sofort Nähe zu den Charakteren herzustellen, Liebe und tiefen Schmerz des Verlustes mit jeder Faser nachzuspüren. Gleichzeitig gestaltet sich seine Handlung bildhaft, indem er sich zeitweise einer nahezu drehbuchartigen Sprache bedient. Dabei lässt er sein Wissen über das klassische Orchestermetier, aber auch aus Mathematik und Kosmologie einfliessen, spannt einen Bogen von der Abstraktheit des Traums in die Realität, indem er mit rationalen Erklärungen eines irrationalen Urzustands eine Endlos-Schlaufe in der Geschichte der Liebenden herstellt.

"Ein Klang von einer Wärme, welche Anna so noch nie gehört, setzte ein mit einer Kraft, dass sie zu atmen fast vergass. Ihre Empfindung wurde angestossen von den Bässen tief in ihrem Bauch, fortbewegt in eine Richtung, die sie vorher nicht einmal erahnt.
Herr Döring schaute ebenfalls entrückt, doch weit in eine andere Richtung tief erschütterter Melancholie. Sein Puls beschleunigte sich zur Musik, seine Sinne wurden fortgespült aus dem Bewusstsein, das mit einem Mal nicht mehr ans Jetzt gebunden war. Er schaute auf die Bühne, sah sich selbst vor einer Ewigkeit dort oben sitzen, betrachtete von Weitem die Bewegung seiner Hände, spürte das Gefühl in seinem Körper eingehüllt in einen Mantel aus Musik."

Tod und Traum
Anna und Anno, die Namen sagen es schon, stellen wie zwei Enden eines Garns, in der Unendlichkeit verbunden, das ersehnte, männliche und weibliche Gegenstück dar. Beide unvollkommen in ihrer Art, wachsen sie zwischen verklärten Ex-Nazis und inkonsequent antiautoritärer Erziehung auf. Bewegen sich, die Ahnen schwer unter ihren Füssen, im Zeitalter einer neuen, deutschen Metropole zwischen Partys, Erfolgsstreben, Sex, Drogen und dem immer währenden Sehnen nach wahrer Liebe.

"Und so verging ein Mosaik der Zeit mit dem Erlebten, es meisterte sich sachte aus dem Frühling eine Form heraus, und aus beiden wurde eine jeweilige Seele, die im Charakter uneben und spröde auf die ergänzende Vollkommenheit eines Gegenstücks zu hoffen wagte."

Anna, die sich den Erwartungen an ihr Geschlecht unangepasst verhält, vertritt den angeborenen Gerechtigkeitssinn schon mal mit schlagkräftigen Argumenten. Dabei macht sie selbst vor Lehrpersonen nicht halt.
Auch Anno wird davon nicht verschont. Schusselig, ewig Zimt schnuppernd und nach seinen Schlüsseln suchend, stolpert er in sein Lebens- und Liebesglück hinein - und gleichsam wieder hinaus. Ein Unfall, der ihn zum Urknall zurück katapultiert!
Hinter dem Schmerz der zurückgebliebenen Anna bleibt, wie in einer Umkehrung von Orpheus und Eurydike, nur noch die tiefe Überzeugung, dass nächtliche Träume die Liebenden für ewig zusammenhalten. Zentral wird dabei die Wertschätzung gemeinsam verbrachter Alltäglichkeiten, die ihre Verbundenheit über den Tod hinaus fortbestehen lässt.

"Irgendwann trafst du auf Anna. Ihr, die Enden zweier Fäden, welche durch die Hände aller Vorfahren gesponnen, allen Kriegen, allen Pandemien zum Trotze, konnten unzerrissen sich zu einer Schlaufe hin vereinen, auch wenn dein Garn leider darin, für dich dem Anschein nach, sein jähes Ende fand."


Sabin Tambrea
wurde 1984 im rumänischen Târgu Mureș in eine Musikerfamilie hineingeboren. Weil diese unter der sozialistischen Regierung Ceaușescus zu leiden hatte, flüchtete sein Vater nach Deutschland. Seine Frau und die beiden Kinder konnte er später nachholen. Tambrea, damals noch ein Kleinkind, wird schon früh zu Geige-, Bratsche-, Klavierspiel, Gesang und später zum Dirigat herangezogen. Der hochbegabte Jungmusiker gewann mehrere Preise, traf dann aber mit 18 Jahren die Entscheidung Schauspieler zu werden. Zunächst von acht Schauspielschulen zurückgewiesen, konnte er sich den Wunsch 2006 schliesslich erfüllen. Er wurde an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch aufgenommen, spielte auf den Bühnen des Theaters Hagen und später im Berliner Ensemble.

Schöner Charakter
Wer zu recherchieren beginnt, stösst auf den Werk-Schatz eines vielschichtigen Künstlers und herausragenden Charakterdarstellers.
Tambreas hochgewachsener, hagerer Körper und die edlen Gesichtszüge mit den hellen Röntgenaugen, die in einem Moment Zerbrechlichkeit und Tiefe offenbaren, im nächsten das Blut in den Adern gefrieren lassen, finden Einsatz in der Darstellung der reinen Güte (
Jesus Cries, Narziss und Goldmund, Rübezahl), wie auch des reinen Bösen (Nackt unter Wölfen, Bella Block, Hackerville, Geheimnis der Hebamme). Sein androgyner Charme und die vornehme Blässe trotzen seinen muskelbepackten, braungebrannten Kollegen und zeigen selbstbewusst, dass Attraktivität auch anders geht. Dabei scheint er beim Einstecken und Austeilen von Schlägen absolut nicht zimperlich zu sein, beweist gar als Julian de Vos in «Berlin Station» an der Seite von Rhys Ifans, dass an dem Mann alles dran ist.

In Robert Wilsons
«Shakespeares Sonette» bedient er auf umwerfend faszinierende Weise die Erotik beider Geschlechter und taucht bei kontroversen, psychisch labilen Rollen (Ku'damm 56/59/63, Ma Folie, Neben der Spur) in die Abgründe der menschlichen Psyche, indem er mit hintergründigem Schmunzeln blitzschnell zwischen mehreren Gemütszuständen wechselt. Bei Grossaufnahmen gelingt ihm das in feinsten Zügen, ganz ohne verzerrende Mimik. Etwas, was nur die ganz Grossen so mitreissend hinbekommen.
Mit absoluter Beherrschung des Handwerks, nicht zuletzt dank sauber getimter Artikulation, lässt der Schauspieler emotionale Tiefe und Introvertiertheit durchscheinen, die eine eingehende Reflexion der Film- oder Bühnengestalt sichtbar, ja förmlich fassbar macht. Weshalb einem selbst die bösen Figuren, fast nie zur Gänze hassenswert erscheinen. Schwer genug für die Darsteller, aus einmal zugeordneten Stereotypen auszubrechen.

Königsklasse
Und seit der Titelrolle von «Ludwig II.» steht spätestens fest: Sabin Tambrea gehört zur Königsklasse seiner Zunft. Die Performance des skandalumwitterten Darstellers Helmut Berger zu toppen unvorstellbar, schaffte er es, unter der Regie von Peter Sehr und Marie Noëlle, den Charakter des letzten Bayernkönigs auf unvergleichliche Art herauszuarbeiten. Dafür wurde er auch prompt mit mehreren Auszeichnungen geehrt.

All die gespielten Charaktere haben jedoch augenscheinlich nichts mit der privaten Person zu tun. Ein strahlend-gewieftes Lächeln auf den Lippen gibt Tambrea, trotz gelegentlicher Model-Jobs, in Interviews bei Fragen zu Äusserlichkeiten ausgefeilte Antworten. Hat der smarte Künstler doch so viel mehr zu bieten und tobt sich mit kreativem Drang neben Schauspielerei, Musizieren und Schreiben auch in Fotografie und Gesang aus. Für seine Rollen stimmt er sich mit der Suche des dazu passenden Parfums und der Komposition einer eigenen Filmmusik ein. Beides soll unter die Haut- und über die simple Vorbereitung hinaus gehen.
In seinen Social Media Posts blödelt er ordentlich herum, leistet sich mit komödiantischem Talent den einen oder anderen Lausbubenscherz. Der Hunde- und Katzenliebhaber verzichtet bei all dem auf zeitgenössische Allüren. Auf suggestive Fragen kontert er stets geduldig, aber mit erfrischendem Pragmatismus. Als Atheist mehr der Wissenschaft als Spirituellem zugetan, setzt er zu politischen Themen, Gegenwind eingerechnet, klare Statements und ist sozial aktiv. Seit 2018 ist er mit der Schauspielkollegin Alice Dwyer verheiratet. Das Paar lebt in Berlin.

Nächste Lesung am Donnerstag 10. März 2022
Infos und Karten


Sabin Tambrea: Nachtleben 2021, Hoffmann und Campe

Auch als E-Book und Hörbuch,
vom Autor selbst gelesen, bei Apple Books herunterzuladen

Carmela Maggi, 4. Oktober 2021

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