*Tells Tochter - Roman | Oper und Kultur

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*Tells Tochter - Roman | Oper und Kultur

Tells Tochter - Roman, Eveline Hasler

Mit dem Verstand einer Frau

Nach „Anna Göldin, die letzte Hexe“ und „Aline und die Erfindung der Liebe“ erzählt Eveline Hasler in „Tells Tochter“ die Geschichte der Patriziertochter Julie Bondeli. Bei ihrer Lesung am heutigen Abend in der Kellerbühne St.Gallen gewährt die Schweizer Erfolgsautorin mit ihrem neuesten Roman spannende Einblicke in das Leben einer historischen Figur.

Die Heldinnen für ihre historischen Romane findet Eveline Hasler in den Archiven der Schweiz. Fein ausgestaltet mit geschichtlichen Enthüllungen und Gebräuchlichkeiten jener Zeit ausgeschmückt, adaptiert sie die Lebensgeschichten in eine zeitgemässe Form. Damit schafft sie eine unverzichtbare Nähe von der jeweiligen Titelfigur zum Lesenden.

Bibel und Strümpfe stricken
Mathematiker Samuel Henzi staunt nicht schlecht, als der in Bern lebende Patrizier Bondeli ihm erklärt, dass er seine Tochter zu unterrichten wünscht. Griffen die Familienoberhäupter des 18. Jahrhunderts doch nur für die Bildung der Söhne in die Tasche. Den Mädchen wurde Strümpfe-Stricken und biblische Geschichte gelehrt, sollten sie mehr begehren, höchstens noch Fremdsprachenunterricht. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit wurde die Tochter Julie anfangs gemeinsam mit zwei anderen Mädchen aus der Nachbarschaft in Mathematik, Philosophie und Kosmografie unterrichtet. Doch als Samuel Henzi den hochfliegenden Geist Julies erkennt, gewährt er ihr nur noch Einzelunterricht, "damit sie in ihrem Lernfluss nicht behindert werde".

Ausgegraben und Ausgestattet
Julie Bondeli ist durch ihre Briefe bis heute eine der schillerndsten Figuren ihrer Zeit. Verborgen geblieben hinter Namen wie Goethe und Rousseau (der ihren Verstand in einem Zitat als männlich würdigte) mischte sich die Berner Patriziertochter gegen alle Konventionen in die politischen Debatten der Männer ein. Dennoch war sie keine Freiheitsheldin. Konnte mit Hilfe von Vater und Lehrer lediglich ein Stück persönlicher Freiheit erreichen und hier und dort neue Gedankensamen pflanzen.

Inspiration aus der Heimat
Die Autorin Eveline Hasler ist in Glarus geboren und lebt heute im Tessin. In ihrem reichen Schaffen präsentiert sie ein Repertoire an Kinderbüchern, Lyrik, Reiseführern und historischen Romanen. Auch in "Tells Tochter" gräbt sie, einer Archäologin und Restauratorin gleich, eine Figur aus der Geschichte heraus und verleiht ihr neue Farbe. Dazu bedient sie sich ihrer Erzählkunst, die unübertroffen gewandt und dennoch leicht zu lesen ist.
Ihre neueste Heldin Julie Bondeli lädt regelmässig zu Lese- und Debattenzirkel in die Sorbonne ein und korrespondiert mit gelehrten Geistern ihrer Zeit. Obwohl sie keine Schönheit ist, unterhält sie eine amouröse Liaison mit Christoph Martin Wieland und kämpft ein Leben lang unbeirrt für die Ideale ihres Lehrers und Vertrauten Samuel Henzi weiter, nachdem dieser, seiner politischen Ideen wegen, hingerichtet wird.
Deshalb rührt der Roman-Titel „Tells Tochter“ aus einem Stück Samuel Henzis. Tell befreit sein Volk darin mit dem legendären Apfelschuss auf dem Kopf seiner Tochter.

Leseprobe:
"Henzi hat nichts dagegen, da sitzen eben drei auf der Gartenbank unter den Ulmen, und während die neuen Elevinnen Augen und Ohren aufsperren, um nichts zu verpassen, zieht Julie eine der jungen Katzen auf den Schoss, krault sie und neckt sie mit Stecken. Henzi spricht über gleichschenklige Dreiecke, Julie guckt nach oben, schreibt Formeln und Regeln in die gezahnten, eiförmigen Blätter der Ulmen, lässt sie durch eine Lücke im Blätterdach mit den Wolken ziehen. Da ist auch eine Spinne, die sich von einem Ast über Julies Kopf abseilt. Henzi lässt zu, dass sie jedem Schmetterling nachschaut. Da ist ein leidenschaftlicher Zug in dem Mädchen, es hat eine Art, den Kopf zu heben, seine Gedanken sind eigenwillig, es spricht selten aus, was es denkt, archiviert alles in seinem Innern. Saugt auf wie ein Schwamm. Zu Beginn der Lektion ist der Kopf der beiden Aufmerksamen leer, alles wie Spreu im Wind fortgewirbelt. Er möge die zwei anderen Mädchen nach Hause schicken, sie störten Julie in ihrer Entwicklung, sagt ihr Vater. Das sorgt für böses Blut! Schnell spricht sich herum, dass Julie Geometrie und Kosmografie lernt und andere solche Ungeheuerlichkeiten. In den Kreisen der Ratsherren mockiert man sich über Bondelis Ehrgeiz, aus seiner Tochter eine Savante en miniature zu machen, man zitiert Molière - Bondeli versuche wohl auf diese Weise, seine hässliche Tochter auszustaffieren für den Heiratsmarkt.

Eveline Hasler, „Tells Tochter, Julie Bondeli und die Zeit der Freiheit“
Verlag Nagel und Kimche, ISBN 3-312-00342-3


Carmela Maggi, 6. September 2004