*Verdi Requiem-St.Gallen | Oper und Kultur

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Verdi "Messa da Requiem" - Theater St.Gallen

Mensch sein

Als letztes Projekt im Provisorium "Umbau", präsentiert das Theater St.Gallen die "Messa da Requiem" von Giuseppe Verdi, vor der Wiedereröffnung des Grossen Hauses. Die szenische Fassung von Krystian Lada zeigt sich hochdramatisch und fesselnd bis zum letzten Atemzug. Im Zentrum stehen dabei die berühmten Verdi-Chorpassagen, die unter der musikalischen Leitung von Modestas Pitrenas wahre Gänsehautmomente erleben lassen.

Requiem aeternam; Ewige Ruhe
Saal und Bühne in ein Gelb getaucht, das den Hautton von von Publikum und AkteurInnen Grau wie Asche erscheinen lässt. Andächtig füllen sich die Zuschauerreihen, für diesen Abend zu imaginären Kirchenbänken mutiert, während auf der Bühne mehrere Bestattungsrituale in kultureller Verschiedenheit vorgeführt werden, zu der die vielfältige Herkunft der Mitglieder des Theaterchors einfliesst. Gebetsmühlenartiges Gemurmel ertönt: "Dunkel Stillle rund auf Erden. Was wird werden, was wird werden?" Wer diese Rituale miterleben will, kann bereits 20 Minuten vor Beginn der Vorstellung im Saal Platz nehmen.

Kyrie; Erbarmen
Giuseppe Verdi verfasste das Werk, das zunächst als Gemeinschaftsprojekt für den Todestag seines Freundes Gioachino Rossini geplant war, über mehrere Jahre hinweg. Da die ursprüngliche Aufführung nicht zustande kam, nahm er diese Arbeit erst nach dem Tod seines Freundes, dem Schriftsteller Alessandro Manzoni wieder auf.

Dies irae; Tag des Zorns
Der Komponist stellte in seiner "Messa da Requiem" die Verbindung zwischen den Menschen ins Zentrum und nicht wie üblich, den Bezug zu Gott. Die vier Solostimmen, Sopran, Mezzo, Tenor und Bass, auf höchstem Niveau gesungen von Hulkar Sabirova, Martina Belli, Christopher Sokolowsky, und Msimelelo Mbali, setzt Verdi im Oratorium als ProtagonistInnen ein, die Situationen zu durchleben scheinen. Damit überschreitet er die Grenze damals üblicher Konventionen und nähert sich vielmehr seinen Opern.

Tuba mirum; Das Ertönen der Tuba
Als musikalischer Hauptbestandteil bleiben die umwerfenden Chorpassagen, für die Verdi bis heute so berühmt ist. Die Umsetzung dafür ist eine Herausforderung, die in der Zusammenkunft von drei Chören mit Begleitung des Orchesters wahre Gänsehautmomente herbeiruft. Modestas Pitrenas führt Orchester und Vokalstimmen durch Himmel und Hölle des hochdramatischen Meisterwerks. Bis zum Umfallen holt er auch das letzte Fünkchen aus den Beteiligten heraus. Am Ende ist dann auch das Publikum geschafft. In der Info-Matinee staunte der Maestro über die Entdeckung einer Gedenktafel an seinem Haus, die für Adam Michiewicz erstellt wurde. Der Dichter habe das berühmte Drama "Totenfeier" in diesem Haus verfasst, aus dem die Invokation vor dem Requiem zitiere:"Was für ein wunderbarer Zufall das doch sei!"

Rex tremendae; Allmächtiger König der Furcht
Krystian Lada lässt bei Regie und Bühnenaufbau wenig Raum zwischen Chor und Zuschauerreihen. Chor, Solo, Schauspiel und Tanz jongliert also auf kleinstem Raum und stellt damit eine Nähe zum Publikum her, die sich mit allem verwebt und beinahe körperlich fassbar ist. Hinter dem weissen Vorhang bleibt der Raum dem Orchester, später mit dem aufgestellten Chor, vorbehalten.
Mit szenischem Intermezzo erschafft Lada symbolträchtige Situationen, indem er die drei Sparten zu einer Einheit zusammenfügt. Eine Herausforderung für alle Beteiligten, die sich über die Grenzen ihrer Kompetenzen hinauswagen mussten.

Recordare; Gedenken
Eine Art Dreifaltigkeit zeigt sich in der Zusammenkunft von drei Chören, aber auch in der Verkörperung von seinen Charakteren, die Lada für den szenischen Teil in den Fokus stellt. Je eine Vertreterin/Vertreter der Sparte Schauspiel, Gesang und Tanz wird für die vier zentralen Rollen eingesetzt;
Der südafrikanische Arzt Christian Barnard, dem die erste Herztransplantation gelang. Autorin Virginia Woolf, die sich in ihrem Wahn das Leben nahm. Adriana Reyes, Mutter eines Teenagers , der in einer Grundschule Amok lief und Tom Gunn, dessen Geliebter am HIV-Virus erkrankte und verstarb.

Confutatis; Die Verfluchten
Dabei veranschaulichen in grandioser Kreation die Kostüme von Adrian Stapf, zusammen mit den Wachs-Figuren von Thomasz Mroz, eine komplexe Symbolik zu Leben und Tod. In Wachs getränkte Mäntel werden für jede Vorstellung von den präsenzstarken SchauspielerInnen Christian Hettkamp, Marcus Schäfer, Chantal le Moign und Emily Pak "aufgebrochen" und danach vom Backstageteam wieder rekonstruiert. Genauso wird der Wachs für die Figuren aufgefangen und jedes Mal neu in die Formen gegossen. Geradezu genial die Idee, Wachs als Symbol für Leben und Tod einzusetzen, das sich durch die Flamme des Lebens ergiesst und neu formen lässt. Genauso, wie die Nacktheit von Seele und Körper mit transparenten Kostümen zu zeigen. Alles in Allem eine emotional und symbolisch schwer beladene Inszenierung, die keinen Raum für Atempausen zulässt.

Lacrimosa; Tränenreicher Tag
Die Figuren werfen Grundsatzfragen zum tieferen Nachdenken auf. Wann ist ein Mensch tot? Wenn das Hirn tot ist, oder das Herz aufhört zu schlagen? Und darf man deshalb ein noch schlagendes Herz herausschneiden, um es einem anderen Menschen einzusetzen, den Körper also als Ersatzteillager nutzen? Hätte die Mutter ihren Sohn mehr lieben sollen, damit er nicht zum Massenmörder wird? Hat jemand das Recht, sich das eigene Leben zu nehmen? Ist die Krankheit HIV eine Strafe Gottes oder darf Liebe in gegenseitigem Einverständnis universell gelebt werden?

Libera me; Befreie mich
"Bis du vergibst und dir vergeben wird nur die Reue" so die Abkürzung eigener Poesie, die Krystian Lada in seine Werkerarbeitung einfliessen lässt. Gelungen ist jedenfalls ein ausserordentliches Werk, das die Emotionen etwa zwei Stunden lang gefangen hält und dank komplexer Symbolik so viele Fragen aufwirft, dass es sich lohnt, dieses ein zweites Mal zu besuchen.
"Messa da Requiem" ist das letzte Projekt, das vom Theater St.Gallen für die Bühne des Provisoriums "Umbau" realisiert wurde.


Weitere Aufführungen bis zum 11. Juni 2023
Infos und Tickets

Carmela Maggi
14. Mai 2023
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Bildrechte: Theater St.Gallen